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Ein gefährliches Hirngespinst

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- oder die wichtigste Nebensache der Welt



Je mehr - so steht zu befürchten - in Politik und Gesellschaft von Werten oder Kultur gesprochen wird, desto weniger gibt es davon. Wenn ganz Deutschland seit Monaten wieder wie wild über >westliche Werte< schwadroniert, bliebe deshalb - selbst wenn alle wüssten, wovon sie reden - dennoch zu klären, ob sie dasselbe meinen. Wer nämlich argwöhnt, wir hätten keine, täuscht sich gewaltig: wir haben so viele, dass schon niemand mehr recht sagen kann, wo in der Werthierarchie oben oder unten ist - und produzieren ständig neue. Kein Wunder, wenn da (angeblich über einen bloßen Verfassungspatriotismus hinaus - was genau genommen heißt: weit darunter!) die Forderung nach ihrer Normierung via >Leitkultur< laut wird!



Wie leicht es bei solchen >Tofu-Wörtern< mit geringem semantischem Eigengeschmack zu dummen und dümmsten Missverständnissen kommen kann, lehrt das Exempel des Mahatma Gandhi, "der auf die Frage, was er von britischer Zivilisation halte, zur Antwort gab: >Ich glaube, das wäre eine sehr gute Idee<." Der Witz liegt hier darin, dass ein normatives Konzept von >Zivilisation< oder >Kultur< - die Wörter werden im englischen Sprachraum meist synonym gebraucht - mit einem anderen kollidiert, das von einer faktisch vorhandenen Lebensform ausgeht. Das aber ist beileibe nicht die einzige Schwierigkeit, die in diesem Begriff steckt.




Er ist ein wahrer Proteus und tritt uns das eine Mal als Steckenpferd und Leidenschaft des kunstbeflissenen Bildungsbürgers entgegen, der sich sein armes Gehirn zermartert, was ihm ein Farbklecks auf einer Leinwand sagen will; das andere Mal als Nosferatu und blutloser Wiedergänger eines christlichen Abendlandes, dessen Geist nun durch leere Köpfe spukt, statt durch volle Kirchen zu wehen; dann im Dirndl mit Knödeln, Schweinernem und Sauerkraut - oder zuguterletzt mit der leicht verblassten und verrutschten Jakobinerhaube bürgerlicher Aufgeklärtheit auf dem Haupt und dem Ruf nach nach superviel Liberté, merklich weniger Egalité und ein klitzekleinbisschen Fraternité auf den Lippen.



Unter dem ganzen Wahnsinnswirrwar zeigt sich uns jedoch halbwegs klar der Antagonismus zwischen zwei halbmythischen Inhalten: einer mehr oder minder partikularistischen Identitätskultur (von der nestwarmen Welt der Lederhose bis hin zum Gottesstaat des Heiligen Augustinus) einerseits und einer mehr oder minder universellen Zivilisiertheit (von Habeascorpus bis zum digitalen Hokuspokus) andererseits. Sie bilden sozusagen das axiologisch aufgeladene Spannungsfeld, innerhalb dessen unser notorisch uniformes und marktkonformes Dasein sich nicht nur abspielt, sondern obendrein auch mit einer gewissen Aura des Exotischen und Exklusiven umgibt.



Da dieser Gegensatz ein bekanntlich enormes Konfliktpotential enthält, wird er durch moderne Verfassungen im Rekurs auf die Naturrechtsidee der Aufklärung zu einen Seite hin aufgehoben. Wenn z.B. die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika jedem Einzelnen "Liberty and the Pursuit of Happiness" oder das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ihm "die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit" zuerkennt, liegt dem jeweils ein Menschenbild zugrunde, mit welchem der Anspruch auf allgemeine Gültigkeit verbunden ist: die Vorstellung des autonomen und verantwortlich handelnden Subjektes. Sie verpflichtet zu einer Humanität und Toleranz, die sonstige Zugehörigkeiten und Wertorientierungen gleichermaßen relativiert und ermöglicht: als öffentlich geschützte Privatangelegenheiten!



Gerade deswegen aber ist der Gedanke einer >Leitkultur< ein gefährliches Hirngespinst - und für jede freiheitliche Gesellschaftsordnung ein Danaergeschenk! Denn zwangsläufig entstünde ein diffuser Werte-Cocktail aus liberalem Universalismus und repressivem Partikularismus: Ingredienzien, die sich schon unverrührt schwer auseinanderhalten lassen - und niemand wäre am Ende noch sicher vor der >Moral< seiner Mitbürger.



Nur simplere Gemüter und gemeine Nürnberger Lebkuchen dürften sich der Illusion hingeben, irgendein >Wir< könnte solche toxischen Mixturen irgendwelchen >Anderen< verschreiben, ohne sich selbst in deren Genuss zu bringen. Das Problem liegt deshalb in der Unmöglichkeit, für eine >Leitkultur< - so ähnlich wie für Menschenrechte und Sittengesetz - generelle Evidenz und absolute Validität zu behaupten. Als Begründung müsste ein >empirischer< Konsens herhalten, der im pluralistischen System aber unerreichbar ist. Ihre Kontingenz und Beliebigkeit würde sie darum angreifbar machen - und dies nicht zuletzt von der Warte jenes Kulturrelativismus und Multikulturalismus aus dem man mit ihr zu entgehen hofft.



Kulturelle Identität mag also (soweit wir eine haben) die wichtigste Nebensache der Welt sein - und womöglich auch die heiligste. Aber mehr - im Namen der menschlichen Vernunft und beim >Deus ignotus< der Verfassungspräambeln, den Vätern des Grundgesetzes und allen Engeln und Märtyrern - bitte besser nicht! Der Schuss dürfte höchstwahrscheinlich böse nach hinten losgehen.











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